Dachauer SZ  Nr. 230 / Seite R 11
Samstag/Sonntag, 6./7. Oktober 2001

Kultur

"Das Erbe von Dachau": Harold Marcuse schreibt über die Geschichte der KZ-Gedenkstätte

Die schwierige Beziehung der Stadt zum ehemaligen KZ

Der US-Historiker beschreibt die Gründungsmythen der Bundesrepublik und den Gedenkort Dachau / Kirchenbauten ohne Verweis zur Vergangenheit

"Ohne Mythen und Idole lebt es sich sicherlich schwerer, aber bestimmt fällt das Denken leichter." Dieser Satz des italienischen Publizisten Angelo Bolaffi könnte als Motto über der kürzlich erschienenen Monographie "Legacies of Dachau" des US-Historikers Harold Marcuse stehen. Mit diesem Werk, das den Untertitel -The Uses and Abuses of a Concentration Camp 1945-2001" trägt, hat der Professor der University of California, Santa Barbara, erstmals eine breit angelegte und damit die bisher umfassendste Geschichte des Gedenkorts Dachau vorgelegt. Den Hintergrund der Darstellung des schwierigen Weges von der Befreiung des KZ zur Gedenkstätte und schließlich zur Neukonzeption der Ausstellung bilden die "Gründungsmythen" der Bundesrepublik Deutschland. Auf eindrucksvolle Weise macht der Autor deutlich, wie diese Mythen bei den bis heute andauernden Widerständen gegen die KZ-Gedenkstätte Dachau ihre negative Wirkung voll entfaltet haben.

Harold Marcuse, dessen jüdischer Großvater, der Philosoph und spätere Mitgründer der Frankfurter Schule", Herbert Marcuse, 1933 nach Amerika emigriert ist, hat in jahrelanger Forschungsarbeit die Beziehung der Dachauer Bürger zum Konzentrationslager nach der Befreiung 1945 beleuchtet. Marcuse lehrt als außerordentlicher Professor in Kalifornien Neue und Zeitgeschichte Deutschlands. Bereits 1994 hat er etwa in den Dachauer Heften erste Ergebnisse seiner Forschungsarbeit vorgestellt. Nun liegt die Monographie vor (bisher nur in englischer Sprache). Durch die Schändung der Gedenkstätte und die absehbare heftige Auseinandersetzung um die künftige Zufahrt zur Gedenkstätte hat das Buch besonders an Aktualität und Brisanz gewonnen.

Reitmeier, Honecker und Ampertaler, 1987Dachaus OB Lorenz Reitmeier empfing 1987 Erich Honecker in der KZ-Gedenkstätte -- mit Ampertalern in Tracht. Foto: Archiv npj

Marcuses Ansatz ist zum großen Teil ein politisch-soziologischer. Er setzt die Vorgänge rund um das ehemalige Konzentrationslager in Beziehung zur Geschichte der Bundesrepublik und zeigt auf, wie die jeweils nachwachsenden Generationen (Geburtskohorten) das jeweils gültige Bild von den Verbrechen der Nationalsozialisten konservierten oder veränderten. "Demgemäß reflektiert die Geschichte jedes Konzentrationslagers nicht nur die politische und kulturelle Geschichte dieses Landes, sondern vielmehr auch speziell die sich ändernden Werte und Ziele der verschiedenen Gruppen in dieser Gesellschaft" (S. 1). Eng damit verbunden ist Marcuses These von den drei "Gründungsmythen" der BRD: Die Deutschen nach dem Krieg sahen sich demnach als Opfer der Nazis (Victimization), betonten ihre Unwissenheit über die Verbrechen (Ignorance) sowie ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus (Resistance). Als damit korrespondierende Entschuldigungsrituale hat Marcuse die Vorstellung von "guten" Nazis, "bösen" Häftlingen und "sauberen" KZ herausgearbeitet. Bis zum heutigen Tag sieht der Historiker diese Mythen am Werk, sogar bei der Neukonzeption der Ausstellung (Kasten).

"Stillschweigende Akzeptanz"

Eigentlich liegen somit zwei Bücher in einem vor, die Geschichte des Gedenkorts Dachau, eingebettet jedoch in die Geschichte der BRD, ohne die viele Vorgänge rund um die Gedenkstätte (zumal für US-Amerikaner) kaum verständlich sind. Marcuse zeigt eindringlich, wie etwa die Diskussion um die (gescheiterte) Reeducation, die Kriegsverbrecherprozesse, die Wiedergutmachungsdebatten der Streit um die Verjährung von Nazi-Verbrechen, die Serie "Holocaust", die Goldhagen-Debatte oder der Film "Schindlers Liste" das Gedenken und Erinnern an die Nazi-Herrschaft in Deutschland beeinflussten.

Gleichzeitig schildert er den spezifischen Umgang der Dachauer Bürger mit dem ehemaligen KZ. Dies macht der Historiker, zurückgreifend auf eine breite Quellenbasis, sehr präzise und ohne irgendwelche Rücksichtnahmen. Die Haltung der Bürger zum KZ während der Jahre 1933-45 nennt er "stillschweigende Akzeptanz oder explizite Unterstützung" (S. 51). Gleichwohl gibt es bei Marcuse keine Verurteilungen irgendwelcher Personen, kein aufgeregtes Anklagen, manchmal nicht mal ein abschließendes Urteil. Marcuse lässt die Fakten sprechen, stützt sich viel auf die scharfe Analyse von Reden oder Briefen. Manch einer, der auf bösartige Statements, etwa zum "Kämpfer für das andere Dachau’" (S. 329), Lorenz Reitmeier, oder zur Haltung der Lokalzeitung Dachauer Nachrichten zur KZ-Gedenkstätte hofft, wird enttäuscht werden. Marcuse zeigt deutlich die Absichten dieser Protagonisten auf, ohne aber zu moralische Urteile zu fällen.

International Memorial in Dachau, with visitors in the rainGedenken in Dachau: Bei den Befreiungsfeiern treffen sich stets ehemailige Häftlinge, Politiker und interessierte Burger. Foto: Archiv SZ

Vor allem zeigt Marcuse fast schon schmerzhaft deutlich auf, wie man in Dachau bereits kurz nach der Befreiung des KZ mit dem Gelände und den dort verübten Verbrechen umzugehen pflegte. Aus dem "Wir haben nichts gewusst" wurde schnell ein Abwehrreflex nach dem Motto "Wir wollen nichts wissen". Nicht jeder posaunte es so laut hinaus wie der Bayerische Landwirtschaftsminister Josef Baumgartner 1955 auf dem Volksfest: "Das Krematorium muss verschwinden. An einem bestimmten Punkt muss die Diffamierung des Dachauer Landes aufhören! " Meist ging das offizielle Dachau subtiler vor. Der Autor Harold Marcuse nennt nur wenige Namen. Etwa den von Bürgermeister Hans Zauner, der sein Amt schließlich nach diffamierenden Aussagen über ehemalige Häftlinge habe niederlegen müssen. Eine größere Rollen spielt auch Landrat Heinrich Junker, der einst den Abriss des gesamten Geländes propagiert habe.

Bis zur Einrichtung der Gedenkstätte 1965 standen alle Zeichen auf Verdrängung – übrigens auch bei der Bayerischen Staatsregierung. Eigentlich nur auf Druck aus dem Ausland und durch die Verbindung ehemaliger Häftlinge zu europäischen Regierungen gelang es etwa, den Friedhof auf der Leiten als solchen zu erhalten. Marcuse nennt das "behördliches Bemühen um Vergessen". Dazu gehört auch die Nutzung des Geländes als Wohnsiedlung" für Vertriebene. Die Reitmeier-Idee vom "einen" und "anderen" Dachau ist da nach Auffassung Harold Marcuses nur eine Spielart zur Konservierung der Mythen, mit denen die Deutschen ihr Gewissen beruhigten und sich vor der Welt als Opfer darstellten.

Sehr aufschlussreich sind auch die drei Kapitel über das Erinnern der Religionen. Marcuse schildert die oft schwierigen Pfade bis zur Fertigstellung der religiösen Einrichtungen auf dem Gelände der Gedenkstätte und auf dem Leiten-Friedhof. Alle Bauwerke, so stellt Marcuse fest, zeigen keinen Verweis auf die NS-Vergangenheit oder das tägliche Leben der Häftlinge. Vielmehr symbolisieren und reflektieren die Bauten die jeweilige Zeit des Baus und die Probleme der jeweiligen Gruppen selbst und nicht so sehr-die Zeit von 1933 bis 1945. Impliziert ist hier der Vorwurf an Katholiken und evangelische Christen, sich (noch) nicht genug mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben.

"Recht zum Widerstand"

Marcuse zeigt im Verlauf der Monographie auf, wie der Mythos ,,Victimization" zum Ende der 80-er Jahre durch neue Quellen und die bohrenden Fragen der Enkelgeneration langsam durch den Willen, historische Verantwortung zu übernehmen, entkräftet wurde. Ebenso wurde der Mythos "Ignorance" im Laufe der Zeit unhaltbar. Das Gedenken der 90-er Jahre kennzeichnet Marcuse nun als Konflikte zur Gültigkeit des Mythos "Resistance", den Mythos, der über Jahrzehnte das Image vom "guten Nazi" aufrechterhalten hatte. Bis zur Deutschen Einheit galt ja der 20. Juli 1944 geradezu als Grundungsmythos der BRD. Zu diesem "Widerstand" zählt Marcuse vor allem, wie in jüngster Zeit die Hilfe Dachauer Bürger für die Häftling betont wird, unter anderem vom Verein "Zum Beispiel Dachau". Auch in Hans-Günter Richardis Zeitgeschichtsführer, den Marcuse leider nicht analysiert hat, finden sich zahlreiche solcher Beispiele. Marcuse: "Widerstand bedeutet mehr als eine gekochte Kartoffel auf dem Gehsteig für vorbeigehende Häftlinge liegenzulassen." Aber auch den zähen und lang anhaltenden Widerstand der Stadt und vor allem der CSU gegen die Jugendbegegnungsstatte zählt Marcuse dazu. Besonders schön sieht man den Mythos an der Aussage von CSU-Stadtrat Georg Englhart aus dem Jahr 1987, der ein "moralisches Recht" sich gegen das Zentrum zu wehren ableitete, vom "Recht des Widerstands der Eltern, die den KZ-Häftlingen halfen" (S. 385).

Auch für die zu befürchtende Auseinandersetzung um die neue Zufahrt zur KZ-Gedenkstätte, die Marcuse nicht mehr aufnehmen konnte und nur am Rande erwähnt, droht der Mythos seine zerstörerische Wirkung zu entfalten. Diesmal wird es wohl um den "Widerstand" von Hausbesitzern gehen, denen die vermeintliche Verkehrsbelastung vor der Haustüre wichtiger sein könnte als die bedeutende Rückgewinnung eines Stücks von Geschichte -- den Weg der Häftlinge.

Das exzellente Buch von Harold Marcuse ist ein spannendes Lehrstück über Geschichte, individuelles Erinnern, politische Kultur und die gegenseitige Interaktion der drei Positionen in der Bundesrepublik. Kritisch anzumerken wäre lediglich, dass aufgrund des breiten Ansatzes und die oftmalige Konzentration auf die Geschichte der BRD die Schilderung vieler Ereignisse in Dachau selbst oft recht kurz ausfällt. Hier hätte man sich einige Details mehr gewünscht. Und: Durch die Focussierung auf die Mythen-Theorie allen natürlich bedeutende Ereignisse in der BRD-Geschichte unter den Tisch, die nicht zu der Theorie passen, etwa die Bedeutung der Deutschen Einheit für das Gedenken an die NS-Zeit.

Davon unberührt bleibt jedoch die große Leistung, den Gedenkort Dachau erstmals umfassend in der Historie der Bundesrepublik eingeordnet zu haben. Auch in Dachau wünscht man dem Buch viele Leser.

Marcuse hat seinem Werk einen Satz von Ench Fried vorangestellt, den auch die Verhinderer, Skeptiker und "Laß-mich-doch-in-Ruhe"-Bürger bedenken sollten: "Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens und vielleicht die freundlichste Art zur Linderung dieser Qual."

ROBERT PROBST

Harold Marcuse, Legacies of Dachau, The Uses and Abuses of a Concentration Camp 1933-2001. Cambridge Unversity Press, 580 S.

Emotionales Lernen als Ziel

Im letzten Kapitel seiner Monographie setzt sich Harold Marcuse kritisch mit den Richtlinien des wissenschaftlichen Beirats zur Neukonzeption der Gedenkstätte auseinander. Den Großteil der sechs Empfehlungen (Eintritt in die Gedenkstätte durch den historischen Eingang, Überarbeitung der Ausstellung, Einbeziehung des Bunkers in den Rundgang, ete.) von 1996 nennt der Historiker "in hohem Maße vernünftig". Kritik übt Marcuse jedoch an der Empfehlung, keine weiteren Rekonstruktionen aufzubauen und den Zugang zu den Wachtürmen nicht zuzulassen. Er glaubt hier, apologetische Tendenzen auszumachen und spricht von der Wiederauferstehung des Wunschs nach einem "sauberen Lager", den die Bayerische Staatsregierung bis in die 1960-er Jahre verfolgt habe.

thumbnail of book coverH. Marcuse schreibt über Dachau. University Press

Marcuses didaktischer Ansatz ist ein anderer: Gedenkstätten seien besonders geeignet, eine persönliche, emotionale Verbindung zu historischen Ereignissen aufzubauen; nicht alles lasse sich rational erfassen. So würden aber die 32 Beton-Fundamente der Baracken keine Hinweise auf das tägliche Leben und Leiden der Häftlinge geben. Er erkennt die Absichten des Beirats an, die Aussage der KZ-Gedenkstätte unmissverständlich zu formulieren, doch konnte diese Meinung kontraproduktiv sein. Ohne selbst genauere Hinweise zu geben spricht sich der Professor für eine ausbalancierte Mischung von Rekonstruktionen aus, die alle Aspekte des Lagerlebens repräsentieren.

Zu sehen sein könnten etwa die Baracken für Menschenversuche, aber auch die Lagerbibliothek oder die Kantine -- je nachdem, welches Image von "Dachau" gezeigt werden soll. rop