Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 30 June 2002
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Denken nach Auschwitz und Hiroshima

Günther Anders (1902-1992) war der streitbarste Philosoph der Totalitarismen und technologischen Revolutionen seiner Zeit. An seinem hundertsten Geburtstag ist er aktueller denn je.  (Stichworte zur Biographie; Schriften)

Von Manfred Papst

Am Ende war er ein verbitterter alter Mann, der sich mit krausen Gedanken zum militanten Widerstand gegen die atomare Bedrohung ins Unrecht setzte, ja sogar in Terrorismusverdacht brachte. 1982 hatte der Achtzigjährige seine «Ketzereien» veröffentlicht, in denen er erstmals mit dem Tyrannenmord flirtete; vier Jahre später brach er eine Debatte um die Legitimität bewaffneter Gewalt gegen den Staat los, die zwar inzwischen gründlich vergessen ist, damals aber die Öffentlichkeit in begründeteren Aufruhr versetzte als unlängst die Causa Schirrmacher - Walser. Als Verzweiflungstat eines starrsinnigen Greises sahen die einen Anders' zornige Verlautbarungen, als logische Konsequenz seines Denkens orteten es die andern. Für manchen Intellektuellen redete der Philosoph sich damals um Kopf und Kragen.

Blendender Schriftsteller

Das aber ist ausserordentlich schade: Denn wer Anders auf Grund seiner späten Ausfälle für «erledigt» hält, bringt sich um die Begegnung mit einem Denker von genuiner Sprach- und Geisteskraft. Der Apokalyptiker aus Breslau war nicht nur einer der wenigen Philosophen seiner Generation, die sich mit Heidegger und Adorno auf Augenhöhe befanden. Er hat auch wie kein anderer die Implikationen der modernen technischen Zivilisation bedacht: die Herrschaft der Geräte über ihren Erfinder, die wachsende Kluft zwischen Herstellbarem und Vorstellbarem (das «prometheische Gefälle»), die Auflösung der Realität in den Medien. Was Anders in seinem Hauptwerk als die «Antiquiertheit des Menschen» zu fassen suchte, bleibt trotz manchen dem Zeitgeist zuzuschreibenden Elementen gültig und brennend aktuell. Wer später einmal nachlesen will, wie der Mensch im 20. Jahrhundert zur tragisch zerrissenen Figur zwischen wissenschaftlich- technischer Kompetenz einerseits und emotionaler wie moralischer Hilflosigkeit anderseits wurde, wird nicht um Anders herumkommen.

Vor allem aber war der gallige Beobachter ein hinreissender Schriftsteller. Für ihn gilt, was Kafka einmal zu Schopenhauer bemerkte: dass man ihn allein schon seiner Sprache wegen unbedingt lesen müsse. Es ist eine kraftvolle, kernige Sprache, elaboriert und eigensinnig zugleich; eine Sprache, die im definitorischen Zugriff die strenge Schule seiner akademischen Lehrer Husserl, Heidegger und Scheler verrät - freilich auch die kaum eingestandene Nähe zu Georg Simmel -, die aber auch bildhaft und melodisch ist, die sich viel zutraut und dem Leser viel zumutet; eine Sprache, die aus der Fülle humanistischer Bildung schöpft und doch stets den direktesten Ausdruck sucht.

Anders' Sprache ist freilich nicht zu trennen von des Autors Lust an der Polemik. Zuspitzung, ja Übertreibung gehören zu seinen wesentlichen Stilmitteln, und oft argumentiert er auch nach der Weise der alttestamentarischen Propheten: Er beschwört in glühenden Bildern das, was er verhindern will. Trost und Rat sind bei ihm als Systematiker des Weltendes nicht zu holen. Seine Texte sind scharfe, oft auch rücksichtslose Interventionen. Ihrem intellektuellen Furor vermag man sich kaum zu entziehen. Bisweilen gerät der didaktische Impetus dem Stil allerdings auch in die Quere: Dann schlägt der Besserwisser, der es seinen Zeitgenossen oft so schwer machte, durch. Der frühe Roman «Die molussische Katakombe» (1938 abgeschlossen, aber erst 1992 veröffentlicht) etwa leidet bei aller Gedankentiefe an seiner lehrhaften Tendenz; Gleiches gilt für die 1978 als «Kosmologische Humoreske» publizierten frühen Erzählungen, für die Fabeln «Der Blick vom Turm» (1968) und für etliche fiktive Dialoge, in denen der Autor einen unbedarften Frager erfindet, den er dann süffisant belehren kann.

Das Hauptwerk dagegen ist von enormer Konsistenz und Spannkraft. Das gilt besonders für die gemeisselte Prosa des ersten Bandes (1956), während der viel spätere zweite (1980), ein typisches Alterswerk, Parerga und Paralipomena versammelt. Am freiesten entfaltet sich Anders' Sprache jedoch in Nebenwerken: In «Lieben gestern» (1986), den in den vierziger Jahren entstandenen Notizen zur Geschichte des Fühlens, in der entzückenden Verserzählung «Mariechen» («Eine Gutenachtgeschichte für Liebende, Philosophen und Angehörige anderer Berufsgruppen», 1987), in den Essays über Bertolt Brecht und George Grosz, über Rodin und Döblin - und in den verschiedenen Tagebüchern, in denen sich Anschauung und Reflexion zu überzeugenden Denkbildern verbinden.

Virtuose des Unglücks

Nun erwächst die Skepsis gegenüber Anders nicht nur aus den Verirrungen seiner späten Schriften, sondern auch aus der Irritation darüber, dass dieser Philosoph es verstand, die meiste Zeit seines Lebens (und nicht etwa nur in seinen Schriften) unglücklich zu sein, dass er also ein Hauptziel seines Berufs verfehlte. Tatsächlich wurde er nicht müde, jede Haltung, die seinem fundamentalen Pessimismus widersprach, zu verhöhnen, und nach Auschwitz und Hiroshima, den Brennpunkten seines Denkens, schien er in der Tat alle Argumente auf seiner Seite zu haben. Angelegt ist seine Grundüberzeugung der menschlichen Unbehaustheit jedoch schon viel früher. «Künstlichkeit ist die Natur des Menschen, und sein Wesen ist Unbeständigkeit», schreibt er schon 1936. Nach seiner Überzeugung ist der Mensch «kontingent» - seine Existenz ist zufällig und beliebig. Nur durch den Hunger ist er mit der Welt verbunden. Was er in ihr bewirkt, kehrt sich aber alsbald gegen ihn. Die technische Möglichkeit einer durch den Menschen verschuldeten Zerstörung des Planeten ist lediglich das augenfälligste Zeichen dieser fatalen Entwicklung.

Vom Moment an, als der Mensch nicht mehr nur durch Werkzeuge seine Organe verlängert oder verfeinert, sondern Maschinen mit einer eigenen Dynamik erfindet, wächst seine Unzulänglichkeit, eben seine «Antiquiertheit». Er ist der Maschine nicht gewachsen. Sie kann alles besser als er. Sie macht seine Arbeit obsolet, erfüllt ihn mit Scham und lähmt ihn: Was er ohne Maschinen nicht mehr tun muss, kann er alsbald überhaupt nicht mehr tun; umgekehrt ist es ihm nicht gegeben, das, was den von ihm entwickelten Maschinen theoretisch möglich ist, nicht in die Praxis umzusetzen. So wächst die Entfremdung, und da der Mensch auch dort, wo er keine echte Aufgabe mehr hat, ohne das Gefühl von Arbeit nicht leben kann, flüchtet er sich in Scheintätigkeiten - etwa in Hobbys oder in den Sport, der nach einem sarkastischen Wort Anders' «Konkurrenz fürs Volk» ist.

Mit seiner Zivilisationskritik, die dem Kulturpessimismus Arnold Gehlens näher steht, als ihm lieb sein mochte, wäre Anders eigentlich wie die Exponenten der Frankfurter Schule zum Ideologen der Studentenbewegung prädestiniert gewesen. Kurioserweise beachtete diese ihn jedoch kaum. Vielleicht war er ihr zu widerborstig, zu eigensinnig, zu wenig trendig. Anders als Herbert Marcuse, den er gut kannte, liess Anders sich nicht vereinnahmen. Kompromisse, auch die Feigheit oder nur schon Rücksichtnahme vor dem Freund, waren nicht seine Sache. Den Begriff der Toleranz verachtete er, weil er ihm stets ein Gefälle zu implizieren schien.

Er legte sich sowohl mit Horkheimer an, dessen grossbürgerliche Herablassung er nicht ertrug, als auch mit Bloch, gegen dessen Opus magnum er sein «Prinzip Verzweiflung» setzte. Selbst Celan schonte er nicht: Dessen sakrosankte «Todesfuge» betrachtete er angesichts des Holocausts als pittoreske Albernheit - wie übrigens auch den Begriff «Holocaust» selbst. Er sprach lieber von «systematischer Leichenherstellung».

Bewusstseinsindustrie

Die Achtundsechziger hätten bei Anders indes vieles entdecken können: nicht nur so eigenwillige wie prägnante Analysen der gleichsam emotionslosen Vernichtung des europäischen Judentums und der noch weiter abstrahierten und anonymisierten Verbrechen im Atomkrieg der USA gegen Japan, sondern auch Erkenntnisse über die Bewusstseinsindustrie, die in ihrer Radikalität und Gründlichkeit alles übertrafen, was etwa Adorno und Enzensberger, gar Populisten wie Neil Postman später zu diesem Thema schrieben. Platterdings verblüffend ist Anders' Analyse des Fernsehens, die er im ersten Band seines Hauptwerks bereits in den fünfziger Jahren - freilich auf der Basis seiner amerikanischen Erfahrungen - unter dem Titel «Die Welt als Phantom und Matrize» vornimmt. Jahrzehnte bevor die «Spassgesellschaft» zum geflügelten Wort wird, erkennt er die ontologische Zweideutigkeit des Fernsehens zwischen Abbild und Realität. Sie bringt nach seiner Formulierung die «Masseneremiten» hervor und macht sie zu «unmündigen», nämlich nicht sprechenden Wesen, um sie als «Kumpane des Universums» vollends zu infantilisieren.

Anders sah den Menschen als Wesen ohne metaphysischen Horizont in einem Weltgebäude, dessen Lücken sich, mit einem Wort Gottfried Benns, nicht mit Wollwesten und Streuselkuchen ausstopfen lassen. Doch obwohl er kein Mann der praktischen Vernunft, der angewandten Lebenskunst war und es nicht vermochte (oder gar nicht versuchte), mit seinem Alltagsleben einen bequemen Frieden zu schliessen, ergab er sich doch nicht dem Defaitismus, sondern setzte sich auf seine verquere Weise ganz konkret und konsequent für die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen ein. Er selbst hat diese Haltung auf die knappste Formel gebracht: «Wenn ich verzweifelt bin, was geht's mich an?» Und er hat sich ein weitverzweigtes Werk abgerungen, das uns, auch wenn wir nicht mehr in der atomaren Endzeiterwartung leben, die Anders' Œuvre bestimmt, ja überhaupt erst hervorgebracht hat, als Thesaurus des Eigensinns weit über den hundertsten Geburtstag des Philosophen am 12. Juli hinaus begleiten wird.


Stichworte zur Biographie (back to top)

Geboren am 12. Juli 1902 als Günther Siegmund Stern in Breslau. Die Eltern, beide bekannte Psychologen, gehören zum assimilierten jüdischen Bildungsbürgertum. 1915 zieht die Familie nach Hamburg um. 1919 Abitur; Philosophiestudium bei Husserl und Heidegger. Dissertation bei Husserl, Assistenz bei Scheler. Ein musikphilosophisches Habilitationsprojekt scheitert am Widerstand Adornos. 1929-1937 Ehe mit Hannah Arendt. 1930 Arbeit beim «Börsen-Courier», Berlin. Namensänderung in Anders. 1933 Emigration nach Paris, 1936 Fortsetzung der Flucht in die USA. Diverse «odd jobs» - vom Fliessband bis zur Requisitenkammer in Hollywood und dem «Office of War Information». 1945-1955 Ehe mit der österreichischen Schriftstellerin Elisabeth Freundlich. Umzug nach Wien, wo Anders als freier Publizist bis zu seinem Tod am 17. Dezember 1992 bleibt. 1954 Mitbegründer der Anti-Atom-Bewegung. 1957 Heirat mit der polnisch-amerikanischen Pianistin Charlotte Lois Zelkowitz. 1959 Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly. 1967 Juror im War-Crimes-Tribunal von Bertrand Russell. Österreichischer Staatspreis 1979, Sigmund-Freud-Preis 1992. (pap.)


Die wichtigsten Schriften (back to top)

Kafka - Pro und Contra (1951).
Die Antiquiertheit des Menschen I (1956).
Der Mann auf der Brücke. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki (1959).
Off Limits für das Gewissen. Briefwechsel mit Claude Eatherly (1961).
Wir Eichmannsöhne (1964).
Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941-1966 (1967).
Visit Beautiful Vietnam (1968).
Der Blick vom Mond (1970).
Endzeit und Zeitenende (1972).
Die Antiquiertheit des Menschen II (1980). Ketzereien (1982).
Mensch ohne Welt. Gesammelte Schriften zu Kunst und Literatur (1984).
Tagebücher und Gedichte (1985).
Lieben gestern (1986).
Die molussische Katakombe (1992).
Über Heidegger (2001).
Günther Anders' Werk erscheint seit 1951 im C.-H.-Beck-Verlag, München. Neu sind dort auch die überarbeitete Fassung von Konrad Paul Liessmanns Anders-Monographie (208 Seiten, Fr. 33.60) sowie das von Ludger Lütkehaus herausgegebene Anders-Lesebuch «Übertreibungen in Richtung Wahrheit» (184 Seiten, Fr. 17.40) erschienen; von Lütkehaus liegt beim Verlag zu Klampen, Lüneburg, auch die Anders-Studie «Schwarze Ontologie» vor (135 Seiten, Fr. 25.60). (pap.)


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